Blick in den museum4punkt0-Praxisalltag: Sieben Fragen zum Digital Storytelling in Schleswig-Holstein
Was genau hat unser nördlichstes Teilprojekt vor? Wir befragen Jorge Scholz und Nadine Schrecken aus Schleswig.
Ihr nennt Eurer Teilprojekt Digitales Storytelling: historische Räume und visualisierte Geschichte(n), berichtet uns kurz zur Einführung, was Ihr vorhabt!
Beim Teilprojekt der Landesmuseen Schleswig-Holstein ist das Ziel, im Projektjahr 2021 eine modulare und nachnutzbare AR-Anwendung zu konzipieren, zu entwickeln und umzusetzen. Die Anwendung sieht funktionell vor, durch digitales Storytelling und medial unterschiedlich beschaffen, die historischen Orte und ihre „verborgenen“ Geschichte(n) und Besonderheiten um eine immersive Erlebnisdimension zu erweitern. Das Teilprojekt umfasst drei Häuser und einen technischen Prototyp. Das kleinere Jüdische Museum Rendsburg bietet als ehemalige Synagoge, heute Erinnerungsort und Gedenkstätte vor allem individuelle historische Narrative. Ein Fokus der von uns inhaltlich konzipierten „Hotspots“ liegt in der Nutzungs-, Raum- und Objektgeschichte des Gebäudeensembles. Das Freilichtmuseum Molfsee in der Nähe von Kiel besteht aus einem großen Areal und dem im Frühjahr 2021 eröffneten „jahr100haus“ als neues Sonder- und Dauerausstellungsgebäude. Für das Teilprojekt relevant ist primär das 40 Hektar große und 60 historische Gebäude umschließende Freigelände, welches der zentrale Erinnerungs- und Erlebnisort für die Alltags- und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins ist. Es gibt einen eGuide (PWA), der 2022 auf das Freigelände erweitert wird. Zuletzt kann die wechselvolle Geschichte des Barockgartens (Museumsinsel Schloss Gottorf) dank ausführlicher archivalischer und archäologischer Quellen spannend visualisiert werden. Im zentralen Globushaus gibt es bereits eine VR zur Entstehungsgeschichte des sog. „Gottorfer Riesenglobus“.
Wie setzt sich Euer Team zusammen, welche Abteilungen der Stiftung bindet Ihr wie in den Konzeptions- und Entwicklungsprozess ein?
Jorge Scholz, der als zentrale Projektsteuerung die inhaltliche Ausrichtung des Projektes maßgeblich gestaltet hat, arbeitet seit bereits sieben Jahren im Bereich Bildung und Vermittlung bei der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf. Jorge hat sowohl die Projektidee für die Bewerbung bei museum4punkt0 Ende 2020 erdacht als auch die Inhalte und Ziele der Anwendung formuliert. Nadine Schrecken ist für museum4punkt0 als Digital Culture-Managerin in der Bildung und Vermittlung der Landesmuseen für die administrative Projektkoordination zum Projektteam dazu gestoßen. In unserem Team vereinen wir unsere beruflichen Erfahrungen aus der Entwicklung von Vermittlungsangeboten, dem digitalen Projektmanagement sowie der Entwicklung von digitalen Kulturstrategien und Outreach-Formaten. Pandemiebedingt findet die Zusammenarbeit noch über digitale Kanäle statt, der Austausch im Team gestaltet sich darüber hinaus aber sehr lebhaft. Natürlich planen wir die weitere Zusammenarbeit, die Besprechungen, Workshops und Begehungen der einzelnen Standorte beinhaltet, vor Ort. In beratender Funktion für die inhaltliche Konzeption der Hotspots sowie die Evaluation der Angebote zur Auswahl der Dienstleister*innen wurden über das Kernteam hinaus, standortübergreifend Mitarbeiter*innen aus diversen Abteilungen der Schleswig-Holsteinischen Landesmuseen zur Entwicklung der inhaltlichen Erzählebene einbezogen. Die inhaltlichen Schwerpunkte („Hotspots“), anhand deren das digitale Storytelling Form nehmen soll, sind beispielsweise in interdisziplinären Workshops von den Mitarbeitenden der Stiftung für den jeweiligen Standort definiert und vorkonzipiert worden. Für die Content-Entwicklung haben wir für die drei Standorte der AR-Storytelling-Anwendung zwei freie Mitarbeiterinnen gewonnen, die mit der Zusammenstellung und Recherche von Materialien für die Erstellung der Inhalte beauftragt sind.
Warum habt Ihr das Format des digitalen Storytellings gewählt?
Wir haben uns die Frage gestellt, was wir noch machen können, um unsere Ausstellungen um eine Erzählebene zu erweitern? Die Idee für unser Teilprojekt im Rahmen von museum4punkt0 ist durch die interessierten Fragen unserer Besucher*innen entstanden: Wie haben sich die Orte hier verändert, wie haben frühere Menschen hier gelebt? Unsere Sammlungen und ihre Vermittlung können diese Fragen meist nur ausschnittsweise durch starke Ausstellungsszenografien und eine wirksame personale Vermittlung beantworten. Die historische Bausubstanz lässt jedoch häufig keine gestalterischen Eingriffe zu. Da die architektonische, räumliche und historische Heterogenität der Häuser der Landesmuseen SH ohne Zweifel diverse, noch unerschlossene Möglichkeiten, die Geschichte(n) der Orte erfahrbar zu machen bietet, ist ein technisch übertragbarer, universeller digitaler Ansatz mehr als plausibel. In unserem Teilprojekt ist dies ein raumbasiertes Storytelling mithilfe von Augmented Reality Applikationen (AR).
Für die Entwicklung der Inhalte haben wir die jeweiligen Kuratorinnen und Kuratoren, Museumsleiter, Vermittlerinnen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbezogen und sie gefragt, welche Lücke für sie in den Ausstellungen besteht und welche „nicht-sichtbaren“ Inhalte sie mithilfe einer AR zeigen möchten. Wir tauschen uns fortlaufend aus und werden auch alle weiterhin in den weiteren Entwicklungsprozess mit unseren Dienstleister*innen einbeziehen, um keine „Bilder“ zu verzerren.
Welche Erzählmethoden möchtet Ihr nutzen, in welche Richtung gehen Eure Überlegungen, könnt Ihr schon an einem konkreten Beispiel den Verlauf einer Story schildern?
Was Ziel jeglicher Vermittlungsarbeit ist, sind die Inhalte erweiternde, unterhaltsame und erlebnisorientierte, aber auch kritisch-reflektierende Erzählungen – bestenfalls ein raumgestalterisches Storytelling, das neue, andere Blicke auf die Vergangenheit ermöglicht. Unser Anliegen ist es, durch eine AR-Applikation den musealen Raum, um eine digitale Erzählebene zu erweitern. Durch digitales Storytelling sollen die historischen Orte und ihre „verborgenen“ Geschichte(n) und Besonderheiten um eine immersive Erlebnisdimension erweitert werden. Ein Beispiel ist der Betsaal im Jüdischen Museum Rendsburg, der heute als musealer Raum zugänglich ist, die ursprüngliche Funktion als rituelle Stätte den Besucher*innen jedoch nur durch die personale Vermittlung zugänglich gemacht werden kann. Durch die verschiedenen Standorte (Barockgarten, Freilichtmuseum, Jüdisches Museum) verfolgen wir inhaltlich eine Vielzahl an Thematiken, die wir durch das Digitale erfahrbar machen wollen.
Unsere Leser*innen interessiert natürlich besonders, ob und warum Ihr Ideen verworfen habt, gab es zum Beispiel unerwartete Entwicklungen? Berichtet uns von Eurem Entscheidungsprozess!
Ein besonderes Merkmal bei uns sind die drei inhaltlich komplett unterschiedlichen Standorte, die z.B. standortbezogen jeweils eine eigene Bildsprache erfordern. Das Anliegen, die verborgenen Geschichten durch ein digitales Vermittlungstool zugänglich zu machen und den musealen Raum durch diese digitale Ebene zu erweitern, lässt sich standortübergreifend technisch einheitlich verwirklichen, aber die wirkliche Herausforderung wird die kreative und gestalterische Umsetzung. Wir verfolgen das Ziel mit einer technischen Lösung unterschiedliche, standortbezogene digitale Vermittlungsangebote zu verwirklichen. Natürlich haben wir ein einem ersten Schritt bei den inhaltlichen Kick-Off-Workshops mit allen Kolleg*innen erst einmal alle Ideen gesammelt, die uns zu dem Schlagwort „verborgene Geschichte(n)“ eingefallen sind. Auch wenn wir mit unserer AR nun die Möglichkeit haben verschiedenen Entwicklungsstadien und Zeitschichten der einzelnen Standorte zu visualisieren, haben wir uns zum Beispiel dagegen entschieden beim Barockgarten die Nutzungsgeschichte der preußischen Kavallerie darzustellen, die ohne Frage eine sehr einschneidende für den Garten gewesen ist. Die Entscheidungsprozesse, in welche inhaltliche Richtung die AR sich entwickeln soll, wurde über das Kernteam hinaus mit allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen einstimmig entschieden. So liegt der Fokus im Jüdischen Museum Rendsburg auf der Nutzungsgeschichte und der rituellen Bedeutung des Ortes. Für den Barockgarten, der zu Schloss Gottorf gehört, war der Wunsch den barocken Geist wiederaufleben zu lassen. Auch wenn die Gartenanlage nach ihrem ursprünglichen, barocken Vorbild rekonstruiert worden ist, fehlen heutzutage einige Elemente, wie zum Beispiel die Amalienburg, die den Garten in seiner Hochzeit zu einem barocken Gesamtkunstwerk gemacht haben. Über die AR können wir auf der digitalen Erzählebene diese Lücke schließen und den Nutzer*innen unserer Web-App die ihnen bisher verborgenen Inhalte zugänglich machen.
Woran arbeitet Ihr selbst gerade konkret und welche sind Eure nächsten Schritte?
Nach Abschluss unseres Vergabeverfahrens befinden wir uns derzeit in der Kick-Off-Phase mit unseren neuen Dienstleister*innen, die wir mit der Kreativkonzeption sowie der technischen Entwicklung unserer Web-App beauftragt haben. Bei den ersten digitalen Treffen haben wir über unsere Wünsche und Vorstellungen gesprochen und das Team unserer neuen Firma konnte sich einen ersten Eindruck durch Gespräche mit allen Kolleginnen und Kollegen der einzelnen Standorte verschaffen. Im nächsten Schritt werden wir in den kommenden Wochen mithilfe von Human-Center-Designmethoden in Präsenzveranstaltungen standortübergreifend Workshops auf der Schlossinsel durchführen. Nach der ersten inhaltlichen Konzeptionsphase, die wir in den letzten Monaten durchweg in digitalen Treffen umgesetzt haben, freuen wir uns besonders auf die Zusammenarbeit vor Ort mit allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen. Dabei haben wir bereits durch die interessierten Fragen unserer neuen Projektpartner*innen unsere Pläne für die inhaltlichen Erzählebenen weiterentwickelt. Neben der fortlaufenden gestalterischen Umsetzung unserer Ideen spielt die technische Entwicklung unserer Web-App-Technologie eine grundlegende Rolle. Diese wird in inkrementellen Arbeitsphasen entwickelt und in den kommenden Monaten durch eine intensive Nutzer*innenforschung evaluiert werden. Unser Anliegen ist es durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit hier innerhalb unserer Stiftung und auch durch den wertvollen Austausch im Verbund museum4punkt0 ein multiperspektivisches, digitales Vermittlungstool zu entwickeln, das besonders niedrigschwellig Inhalte für eine diverse Nutzer*innengruppe bereitstellen kann.
Und zum Abschluss noch: Was ratet Ihr Kolleg*innen aus dem Kulturbereich, die ein ähnliches Projekt angehen möchten?
Für uns war und ist es bei der Ideenfindung und den fortlaufenden Entwicklungsprozessen besonders hilfreich, den Blick auf die Vermittlungsziele zu richten. Wir sind dabei, ein technisch ambitioniertes Projekt umzusetzen. Jedoch sollte nicht die Technik im Mittelpunkt stehen, sondern als Werkzeug für die Museumsarbeit genutzt werden. Wir möchten die AR-Anwendung nutzen, um Besucher*innen auf unterhaltsame Weise die Möglichkeit geben, ihr historisches Bewusstsein zu schulen und Museen als Teil ihres kulturellen Erbes zu erleben. Die AR-Anwendung ermöglicht eine digitale, mediale Aufbereitung der „verborgenen“ Inhalte: Orte und Geschichte(n) analog und digital verbinden und den musealen Raum um eine digitale Erzählebene erweitern. Für Besucher*innen eröffnet sich eine intuitiv gestaltete immersive Erfahrungsweise von historischen Räumen, Landschaften, Ereignissen und Persönlichkeiten, die bisherige Vermittlungsmedien nicht leisten können. Die historischen Orte bzw. Baudenkmäler und Landschaften sowie ihre Geschichte werden somit als komplementäre Ausstellungsebene erschlossen. Im Sinne einer breiten Besucher*innenorientierung und den primären Zielgruppen bzw. Besuchsmotivationstypen sollte jede digitale Anwendung niedrigschwellig, familienfreundlich, inklusiv und intuitiv gestaltet sein. Digitale Vermittlungsangebote, wie unsere AR-Anwendung, können digitale Zugänge zur Welt schaffen, durch die kleinformatige Anwendung findet jedoch keine mediale Überwältigung statt. Stattdessen sind Besucher*innen stets gefordert, bewusst die Brücke zwischen körperlicher Präsenz und imaginativer Verwandlung zu schlagen. Damit wird ein weiteres Ziel der Vermittlung deutlich, durch den Blick in die Vergangenheit die Gegenwart besser zu verstehen, um die Zukunft zu gestalten.
Fragen von Dr. Silke Krohn, Antworten von Jorge Scholz und Nadine Schrecken