Geschichte analog und digital
museum4punkt0 als ideales Testfeld: Elisabeth Breitkopf-Bruckschen dazu, wie das Deutsche Historische Museum heute an das Publikum von morgen denkt.
Frau Breitkopf-Bruckschen, als wissenschaftliche Referentin im Präsidium des Deutschen Historischen Museums (DHM) sind Sie zuständig für Kooperationsprojekte wie museum4punkt0. Ihr Museum ist assoziierter Partner des Verbunds. Was versprechen Sie sich von der Zusammenarbeit?
Wir sind froh, das Projekt als assoziierter Partner begleiten zu dürfen und schätzen vor allem den Austausch mit den anderen Partnern. Das Entwickeln und Erproben digitaler Formate ist bekannterweise oft kostenintensiv. Umso wichtiger ist es, dass nicht jeder das Rad neu erfindet, sondern individuell an einzelnen Institutionen entwickelte Projekte von der Gemeinschaft museumsübergreifend nachgenutzt und im besten Falle in den Ausstellungsbetrieb nachhaltig implementiert werden können. museum4punkt0 ist mit seinem experimentellen Charakter hier ein ideales Testfeld, eine bunte Spielwiese, die durch die Heterogenität der einzelnen Akteure das Querdenken und die Kreativität besonders befördert.
Das DHM wird in den kommenden Jahren seine Dauerausstellung neu entwickeln. Die Frage, inwieweit und in welcher Form digitale Angebote dort zum Einsatz kommen, wird den Entwicklungsprozess begleiten. Uns ist es wichtig, dass digitale Formate tatsächlich einen Mehrwert darstellen. Das DHM lebt von seinem reichen Sammlungsbestand mit annähernd einer Million historischer Objekte. Diese ganz analogen Zeugnisse der Vergangenheit werden auch in unserer neuen Dauerausstellung im Zentrum stehen. Sie sind ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal unseres Hauses, das auch von unseren BesucherInnen als elementar angesehen wird. Unsere Besucherforschung belegt, dass das Interesse am Objekt eine wesentliche Besuchsmotivation ist. Medialer Mehrwert zeigt sich für uns dann, wenn digitale Formate Kontextualisierung und Vernetzung in besonderer Weise ermöglichen. Diese Möglichkeiten gilt es im Prozess der Neukonzeption auszuloten.
Welche digitalen Angebote können BesucherInnen Ihres Museums bereits nutzen?
Zum einen bedienen wir natürlich die gängigen digitalen Kanäle, um unsere BesucherInnen zu informieren und mit ihnen zu kommunizieren: Unsere Webseite wird mit durchschnittlich 500.000 Besuchen pro Jahr gut genutzt, ebenso unser digitaler Newsletter, bei dem die Abonnentenzahlen stetig steigen. Mit Facebook, Twitter, Instagram und YouTube nutzen wir auch die gängigen Social-Media-Kanäle. Ein besonders attraktives Angebot ist das in Kooperation mit der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betriebene Online-Portal LeMO, das in den vergangenen Jahren rund eine Million Besuche pro Jahr verzeichnen konnte.
Zum anderen halten wir vor Ort in unseren Ausstellungen diverse digitale Angebote bereit. Die Wechselausstellungen sind hier im Vergleich zu unserer Dauerausstellung wie zu erwarten zeitgemäßer. Die digitalen Angebote selbst werden jeweils vom Ausstellungsteam und den KollegInnen der Bildung und Vermittlung entwickelt und variieren bei den einzelnen Ausstellungen. Ein besonderes Anliegen ist es dem Haus, über ein breites Spektrum an inklusiven Angeboten Teilhabe zu ermöglichen. Hier nutzen wir auch digitale Medien wie Videos in Gebärdensprache oder Audiodeskriptionen, um barrierefreie Zugänge zu eröffnen. In der Dauerausstellung ist es beispielsweise auch möglich, Informationstafeln in Leichter Sprache über einen QR-Code für das eigene Smartphone nutzbar zu machen und die Texte dann hierüber zu lesen oder zu hören.
Im Herbst erproben wir mit dem Projekt DER SPRUNG zum ersten Mal eine VR-Anwendung in unserem Haus. Es handelt sich dabei um eine 360-Grad-Virtual Reality-Kunstinstallation, bei der die ZuschauerInnen in drei VR-Filmen immersiv erleben können, wie es beim Mauerbau zu dem weltberühmten Foto des fliehenden NVA-Soldaten, der von Ost- nach Westberlin sprang, kam. Die BetrachterInnen werden ins Jahr 1961 zurückversetzt und nehmen durch VR das historische Ereignis besonders intensiv wahr. Mit diesem Projekt des Künstlers Boris Hars-Tschachotin betreten auch wir Neuland und sind gespannt auf die Reaktionen des Publikums.
Wie würde Ihre persönliche Visitor Journey rundum Ihr Museum und darin aussehen?
Das Spezifische des DHM ist seine Bandbreite an historischen Themen, die Vielzahl der Objekte aus seinen breitgefächerten Sammlungsbereichen und die epochenübergreifende Darstellung von Geschichte im internationalen Kontext. Diese Komplexität bedingt eine starke Bandbreite und Heterogenität in der Publikumsstruktur, der wir auch bei der Gestaltung des Museumsbesuchs gerecht zu werden versuchen. Es ist der Anspruch des DHM, für jeden etwas bereitzuhalten und diverse Zugänge zu historisch-politischer Bildung zu eröffnen. Beispielsweise verzeichnet unsere Dauerausstellung mittlerweile über 50 Prozent internationale Gäste: Allein dies bringt variierendes Vorwissen und unterschiedliche Perspektiven sowie ein weites Spektrum hinsichtlich der Interessenlage und des NutzerInnenverhaltens mit sich.
Digitale Formate eignen sich heute besonders, um auf die Ausdifferenzierung und Diversität des Publikums einzugehen. Dies beginnt bei der zielgruppenadäquaten Ansprache vor dem Besuch und natürlich besonders vor Ort in den Servicebereichen und den Ausstellungen selbst, bestenfalls sogar noch im Nachgang. Idealerweise schaffen es digitale Angebote, den BesucherInnen interaktiv individuelle Zugänge zu den historischen Objekten und Themen zu eröffnen, die ihren persönlichen Bedürfnissen und Interessen entsprechen.
Bei der Neuentwicklung unserer Dauerausstellung werden wir hierauf ein besonderes Augenmerk richten. Die bisherigen Erfahrungen bei museum4punkt0 wie beim Teilprojekt der Staatlichen Museen zu Berlin „Visitor Journeys neu gedacht – digitale Erweiterung des Museumsbesuchs“ werden wir sicher gewinnbringend in diesen Prozess aufnehmen. Eine der Herausforderungen wird sein, individuelle Zugänge zu eröffnen und dabei gleichzeitig dem Museumsbesuch als sozialem Ereignis gerecht zu werden, damit digitale Formate nicht zur Vereinzelung führen, sondern Möglichkeiten des Dialogs und der Interaktion bieten.
Welche Erfahrungen und Erkenntnisse hinsichtlich des Nutzungsinteresses digitaler Museumsangebote nehmen Sie mit aus der Zeit notwendiger Einschränkungen des regulären Betriebs?
Als das DHM am 14.03.2020 seine Türen pandemiebedingt temporär für den Publikumsverkehr schließen musste und weite Teile der Belegschaft ihre Arbeit ins Homeoffice verlegen mussten, setzte hinter den Kulissen ein großer Digitalisierungsschub ein, der das Museum nachhaltig prägen wird. Eine wichtige Erfahrung war für die KollegInnen die schnelle Umsetzung von mobilem Arbeiten und flexibler Arbeitszeitgestaltung. Diese interne Erfahrung in der ‚Corona-Zeit‘ ist vielleicht noch wichtiger als die Frage der Nutzung digitaler Angebote durch das Publikum, da sie zwangsläufig das Faktum des digitalen Wandels und die Notwendigkeit, sich darauf einzulassen, im Arbeitsalltag hat spürbar werden lassen.
Die Frage, wie stark die während der Schließzeit des Hauses dem Publikum angebotenen digitalen Formate genutzt wurden, lässt sich nur bedingt verlässlich beantworten, da diese entweder nicht zu messen sind oder Vergleichswerte fehlen. Dies gilt zum Beispiel hinsichtlich der für unsere Hannah-Arendt-Ausstellung mit dem rbbKultur entwickelten Hörcollagen oder die virtuellen Rundgänge durch die Ausstellung. Die Webseite zur Ausstellung wurde zwar im Vergleich stärker besucht als die Webseite anderer Ausstellungen, doch spielt hier auch das vor der Wiedereröffnung eingesetzte Online-Ticketing eine Rolle.
Fakt ist, dass die Hannah-Arendt-Ausstellung, die wir am 11.05.2020 als erste Ausstellung für das Publikum öffnen konnten, einen großen Zulauf erfahren hat. Für viele scheint es ein großes Bedürfnis gewesen zu sein, die Ausstellung trotz Zugangsbeschränkungen und Maskenpflicht live und analog zu besuchen.
Die ‚Corona-Krise‘ hat nicht nur durch neue Ideen den Nutzen der Digitalisierung vor Augen geführt, sondern auf der anderen Seite auch die Anfälligkeit digitaler Formate gezeigt. Die aktuell geltenden Sicherheits- und Hygieneregeln machen viele Anwendungen nur eingeschränkt oder gar nicht nutzbar: Dies gilt für Touch Screens, Audio- und Multimedia-Guides oder VR-Brillen, wie wir sie bei DER SPRUNG zum Einsatz bringen möchten. Zudem zeigen aktuelle Erfahrungen, dass die MuseumsbesucherInnen in der gegenwärtigen Situation eher zurückhaltend bei der Nutzung solcher Angebote sind.
Wo sehen Sie Möglichkeiten, Synergien mit anderen Institutionen der deutschen Museumslandschaft zu nutzen? Wo sehen Sie in diesem Zusammenhang die Chancen von museum4punkt0?
Als Geschichtsmuseum haben wir ein starkes Interesse daran, historische Ereignisse erfahrbar zu machen und Vergangenes möglichst anschaulich zu präsentieren. Gleichzeitig prägt unsere Arbeit ein hoher wissenschaftlicher Anspruch, der sich in auf Forschung und Fakten basierenden Ausstellungsprojekten manifestiert. Uns interessieren vor allem digitale Anwendungen, die diese Aspekte verbinden.
museum4punkt0 liefert hier nachhaltige Anknüpfungspunkte. Einer davon ergibt sich aus einem Projekt mit der HoloLens, das ein Verbund-Team in Forschungskooperation mit dem Human Centered Computing Lab der Freien Universität in den vergangenen Monaten an einem historischen Objekt unseres Hauses entwickelt und erprobt hat. Die Mixed-Reality-Anwendung bezieht sich auf die „Viktoria“, eine fast vier Meter hohe Marmorskulptur von Fritz Schaper, die im Zeughausfoyer die Museumsgäste begrüßt. Ein Teilaspekt des Projekts war, die Statue mittels historischer Fotos in ihrem ursprünglichen Kontext zu augmentieren. Die NutzerInnen der HoloLens bekommen so die „Viktoria“ an ihrem ursprünglichen Aufstellort in der ehemaligen „Ruhmeshalle der brandenburgisch-preußischen Armee“ im ersten Obergeschoss des Zeughauses mit besonderer Intensität vor Augen geführt; zusätzlich virtuell eingespielte Informationsebenen stehen im Dienst von Kontextualisierung und Vermittlung.
Das DHM befindet sich an einem historisch sehr bedeutsamen Ort: Das Zeughaus ist das älteste erhaltene Gebäude auf dem Boulevard Unter den Linden und ist seit mehr als drei Jahrhunderten Stätte preußischer und später deutscher Selbstdarstellung. Seit 1831 wurde es als Ausstellungsort bedeutender (militär-)historischer Sammlungen genutzt. Allein im 20. Jahrhundert unterstand das Gebäude acht verschiedenen staatlichen Einrichtungen. Von 1871 bis 1945 war es preußisch-deutsches Kriegsmuseum, dabei 1933-1945 der Wehrmacht unterstellt, später von 1952 bis 1990 war das Zeughaus das zentrale Geschichtsmuseum der DDR. Seit 1990 beherbergt es das Deutsche Historische Museum.
Diese Geschichte des Ortes soll in der neuen Dauerausstellung stärker Berücksichtigung finden als bisher. VR- und AR-Anwendungen sind hierfür von besonderem Interesse. Die Forschungserkenntnisse wie auch die Erfahrungen bei der praktischen Umsetzung des vorab skizzierten HoloLens-Projekts werden in die Überlegungen zur Darstellung der Geschichte des Ortes mit einfließen und liefern nutzbringende Anhaltspunkte.
Wichtig dürfte darüber hinaus die stärkere Vernetzung mit der unmittelbaren Nachbarschaft sein, die nicht minder geprägt ist durch historische Bauten und deren Geschichte: das Humboldt Forum, die einzelnen Häuser der Museumsinsel, der Berliner Dom oder die Humboldt Universität, um nur die wichtigsten Akteure zu nennen. Auch hier könnte die digitale Vernetzung mittels museum4punkt0 eine lohnenswerte Aufgabe sein.
Beitrag von: Elisabeth Breitkopf-Bruckschen
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