2. Oktober 2020
Technische Umsetzung, Wissenstransfer

Mehr als die Summe seiner Teile: Portal zu Lebensgeschichten von MigrantInnen

Intuitiv oder systematisch: Das neue Biographien-Portal des Deutschen Auswanderhauses bietet individuelle Zugänge zur Migrationsgeschichte.

Einladend in der „Familienrecherche“ inszeniert: das „Biographien-Portal“
Einladend in der „Familienrecherche“ inszeniert: das „Biographien-Portal“, Foto: Deutsches Auswandererhaus / Magdalena Gerwien, CC BY 4.0

Wer lernt ohne zu verstehen, wird weniger lange erinnern. Wissen muss sich verbinden und vernetzen, um wirksam zu werden: verbinden mit anderem Wissen, mit sinnlichen Empfindungen, Gefühlen und praktischen Erlebnissen. Mit dem neuen „Biographien-Portal“ verknüpft das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven nicht nur Lebens- und Objektgeschichten auf digitalem Wege miteinander, sondern baut eine reale Brücke zu denen, die selbst Migrationsgeschichte mit ihren persönlichen Erfahrungen beleben.

„Emotionales Lernen“

Als Museum, das intensiv mit Biographien und persönlichen Erinnerungsobjekten arbeitet, hat das Deutsche Auswandererhaus in seiner Vermittlungsarbeit eine spezielle und zugleich weit verbreitete Herausforderung: Das Individuum, seine Geschichte und die mit ihm verbundenen Objekte sind mehr als ein bloßes Beispiel oder bloße RepräsentantInnen historischer Phasen. Zugleich sind sie aber erst durch ihren historischen und sozialen Kontext und deren überindividuelle Wirkung wirklich zu verstehen.

Das Museum verfolgt dabei das Konzept des „emotionalen Lernens“: Das Publikum soll einen persönlichen Bezug zu Schicksalen der AuswanderInnen aufbauen können. Dabei werden emotionale und somatische Assoziationen mit der Menschlichkeit des Anderen geschaffen und gestärkt. Die originalgetreu rekonstruierten Schauplätze einer Migration und die vielseitigen, multi-sensuellen Medien im Museum ermöglichen eine körperliche und emotionale Erfahrung, die die Reise der Auswandernden nicht nur intellektuell nachvollziehen lässt. Dies ergänzen die detaillierten Biographien, die an den entsprechenden Orten des Museums mit dem aktuellen Erleben verknüpft werden. Dabei erhalten die Gäste individuell eine konkrete Biographie, die sie durch die gesamte Ausstellung begleitet. So kann eine „persönliche“ Beziehung zu den präsentierten Lebensgeschichten und Personen aufgebaut, können Erfahrungen gemacht und Empathie entwickelt werden.

„Das Thema Migration kann sehr abstrakt sein, etwa durch Statistiken. Menschen verschwinden schnell dahinter. Sie sichtbar zu machen, spielt in unserer Arbeit als Museum eine wichtige Rolle“, sagt Museumsdirektorin Dr. Simone Blaschka.

Wie aber kann eine solche Vermittlung auf der „sachlichen“ Ebene – zwischen Fotos, Objekten und Dokumenten – gelingen? Wie also verknüpfen sich für die BesucherInnen Objekt, Wissen und Emotion zu einer ganzheitliche Lernerfahrung? Wieviel „Aura“ des Originals bedarf es dabei? Und wie gelingt diese Lernerfahrung auch mit Biographien, die weniger Anknüpfungspunkte zur Lebensgeschichte der jeweiligen BesucherIn bieten? In Auseinandersetzung mit diesen Fragen präsentiert das Deutsche Auswandererhaus eine stetig wachsende digitale Plattform, die in den nächsten Wochen und Monate durch das Feedback der BesucherInnen noch weiterentwickelt werden soll: das „Biographien-Portal“.

Piktogramme der Startseite des „Biographien-Portals“ in der Anwendung
Eine zufällige Fotoauswahl auf dem Startbildschirm erlaubt ein intuitiv-spielerisches Entdecken der Biographien, Objekte und ihrer Verbindungen, Foto: Deutsches Auswandererhaus / Dominik Laupichler, CC BY 4.0

„Biographien-Portal“

Aktuell wird das vollständig digitale Netzwerk in einer Touchscreen-Vitrine präsentiert und in der gut besuchten „Familienrecherche“ des Deutschen Auswandererhauses zugänglich. Die Rückseite der Vitrine enthält dabei eines der digitalisierten Originale. Die „Familienrecherche“ ist Ort für die aktive Recherche nach ausgewanderten Angehörigen in zwei internationalen Datenbanken und verbindet die eigenen familiären Geschichten mit den Wissens- und Erfahrungsständen aus dem Museumsbesuch. Sie ist im Besonderen ein Ort der mitgebrachten Fragen.

Das Portal selbst bietet eine visuell-intuitive Nutzung ebenso an wie eine begrifflich-systematische. Ein Startbildschirm mit zufälligen Bildern von Objekten, Fotos, Videos und Texten lädt zum Entdecken ein. Wird die Seite geöffnet, finden die NutzerInnen Informationen über das persönliche Erinnerungsstück oder Erfahrungsberichte. Darüber hinaus werden ihnen durch Stichwort-Verlinkungen verschiedenste Verbindungen zu anderen Objekten und Geschichten aufgezeigt. Dabei verbinden sich die einzelnen Erzählungen und Bilder manchmal zu den Fragmenten einer Geschichte. Kategorien wie „Zeiträume“ (wie zum Beispiel die Phase von 1946 bis 1989), „Migrationsart“ (zum Beispiel Bildungsmigration) und „Migrationsgrund“ (zum Beispiel Liebe oder Diskriminierung) erlauben andere, neue Dimensionen des Vorgefundenen zu erkunden. Die Verbindungen selbst können dabei ebenso überraschen, berühren, verwundern oder aufklären wie die einzelnen Geschichten. Sie erlauben, das weniger Zugängliche auf dem Umweg der emotional eindrücklicheren Exponate zu entdecken.

Dieser spielerische Einstieg entwickelt sich für die NutzerInnen während der Anwendung weiter. Natürlich kann auch ganz bewusst gesucht werden. Das Netzwerk ist auf diese Weise intuitiv, nah an den Interessen seiner NutzerInnen und präsentiert zugleich die vielen „verborgenen“ Teile der Museumssammlung. Dr. Simone Blaschka fasst das Konzept zusammen:

„Unser neues Biographien-Portal ermöglicht es, persönliche Bezüge zu den Ein- und AuswandererInnen zu entdecken, weil die dahinterliegende Datenbank mit ihren unzähligen Verknüpfungsmöglichkeiten viele neue Zugänge anbietet, die die individuellen Interessen der Besucherinnen und Besucher widerspiegeln.“

: Einzelne Informationsseite des „Biographien-Portals“ in der Anwendung
Einzelne Themen und Objekte können bewusst vertieft werden, Foto: Deutsches Auswandererhaus / Magdalena Gerwien, CC BY 4.0

Ins Gespräch kommen: Erstkontakt zu Menschen mit persönlicher Migrationsgeschichte

Aktuell funktioniert das „Biographien-Portal“ des Deutschen Auswandererhauses noch als In-House Station, ist also noch nicht ans World Wide Web angebunden. Im Dezember 2020 soll das Portal jedoch online gehen und so überall auf der Welt aufgerufen werden können. Das ist nicht zuletzt vorteilhaft für die zweite zentrale Funktion des Portals: Das Feature „Meine Geschichte“ soll die WissenschaftlerInnen des Museums mit denen ins Gespräch kommen lassen, deren Familiengeschichten selbst mit dem Thema Migration eng verbunden sind. Ein Briefumschlag-Button leitet zu einer übersichtlichen Maske, die Menschen mit einer eigenen oder familiären Migrationsgeschichte einlädt, persönliche Kontaktdaten und einige wesentliche biographische Informationen an das Deutsche Auswandererhaus zu senden.

Das erlaubt den ForscherInnen einen niedrigschwelligen Erstkontakt zu möglichen InterviewpartnerInnen, die ihnen sonst vielleicht nie bekannt geworden wären. Und wer sich in den Menschen und Dingen des Portals wiederfindet, kann hier auf einfache Art einen Forschungsbeitrag und ein Stück Aufklärungsarbeit über Migrationserfahrungen leisten – beginnend mit der kurzen Notiz seiner oder ihrer eigenen Geschichte.

Ein Beitrag von: Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven

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