Zauber des Augenblicks: Immaterielles Kulturerbe Fastnacht digital erleben
Wie lässt sich das Wesen des Festes vermitteln? museum4punkt0-Projekte finden digitale partizipative Zugänge zum performativen Kern der Fastnacht.
Im museum4punkt0-Teilprojekt „Kulturgut Fastnacht digital“ setzen sich die Teams der Museen Narrenschopf Bad Dürrheim und Schloss Langenstein mit der digitalen Vermittlung einer ganz spezifischen Form von Kulturerbe auseinander. Es geht ihnen nicht um primär materielle Zeugnisse, wie sie üblicherweise in Museen präsentiert werden, sondern im Fokus ihres Interesses stehen immaterielle kulturelle Ausdrucksformen. Denn Fastnacht, Fasching und Karneval sind performative Vorgänge, mimetische Darbietungen, Handlungsabläufe, Riten – genau das, was die UNESCO 2003 mit der „Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage“ in den Fokus ihres Bemühens gestellt hat. Nicht von ungefähr wurden Fastnacht und Karneval 2014 von der Deutschen UNESCO-Kommission ins nationale Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
In den vergangenen Jahren haben also die Museen Bad Dürrheim und Langenstein etwas zu musealisieren versucht, was streng genommen gar nicht musealisierbar ist. Sie haben nicht die Fastnacht als solche, sondern lediglich deren materielle Objektivationen, gewissermaßen nur ihre dinglichen Spuren gezeigt: Kostüme, Masken, Requisiten, Kunsthandwerk, historische Dokumente – aber das Eigentliche, die Realität und das Wesen des Festes, seine Vollzugsformen, seinen Erlebniswert, seine Emotionalität, eben seinen performativen Kern, das konnte ein Museum nicht vermitteln und erfahrbar machen. Dies hat sich mit der Verfügbarkeit digitaler Strategien, digitaler Medien und digitaler Vermittlungsformen grundlegend geändert.
In Bad Dürrheim bildet die filmische Dokumentation spektakulärer Fastnachtsbräuche in 360-Grad-Aufnahmen einen Schwerpunkt der digitalen Vermittlung immateriellen Kulturerbes. Mit dieser Technik wird hautnah erfahrbar, was ein analoges Museum niemals zeigen kann: die performative Wirklichkeit der Fastnacht, das Geschehen selbst. Die täuschend echte Wiedergabe der Brauchrealität in den 360-Grad-Filmen, das Eintauchen des Betrachters in das Ereignis als solches bietet die Möglichkeit, fastnächtliche Traditionen als ritualisierte Handlungsabläufe und zugleich fluide mimetische Formen zu vermitteln, die vom Zauber des Augenblicks leben.
In dieser Reproduktionsform wird zudem spürbar, dass sich Bräuche aus repetitiven und innovativen Elementen speisen, wie überhaupt Bräuche und Riten durch ein merkwürdiges Spannungsfeld zwischen Statik und Dynamik, Beharrung und Wandel, Tradition und Fortschritt geprägt sind. Bräuche sind weder fossilisierte Vergangenheit noch beliebige Gegenwart. Ihr Wesen liegt irgendwo dazwischen. Und genau das vermögen 360-Grad-Dokumentationen zu zeigen, nämlich die Statik des Überlieferten und die Dynamik der Gegenwart, wobei letztere mit digitalen Mitteln durch Updates jederzeit nachvollziehbar gemacht werden kann.
Die 360-Grad-Dokumentationen, bei denen vor allem das Raumerlebnis und das Gefühl des Mittendreinseins verblüffen, werden den Museumsbesuchern in zwei Varianten offeriert – zum einen als gemeinsames Erlebnis in einer eigens dafür errichteten Kuppel, dem Effekt eines Planetariums vergleichbar, und zum anderen als individuelle Erfahrung mit VR-Brillen an speziellen Medienstationen. Die Betrachter sitzen dort auf Drehstühlen, die ihnen Bewegungsfreiheit in der Rundumsicht geben, aber zugleich ein gefährliches Herumgehen im Raum verhindern.
Wie der Einzelne ins Geschehen hineingenommen wird, ist partizipativ im besten Wortsinn. Er kann mitbestimmen, ja selbst entscheiden, was er in dem Ereignis sehen will und was nicht. Während herkömmliche ethnologische Fotografien oder Filme ganz bestimmte Facetten eines Ereignisses ausrisshaft fokussieren und den Betrachter durch die Detailwahl eng führen, kann dieser bei 360-Grad-Rundumsicht seinen Blickwinkel selbst wählen. Er kann den Blick vom Hauptgeschehen abwenden, sich umdrehen, Marginales am Rande wahrnehmen, was aber zum Festablauf durchaus auch dazu gehört. Und er kann Emotionen entwickeln, das Fest als ein Moratorium des Alltags erleben, wie es Odo Marquard formuliert hat, als „temporäre Außerkraftsetzung der realen Welt“.
Viele Bräuche setzen sich zudem aus simultanen Abläufen zusammen, die unabhängig voneinander gleichzeitig stattfinden. Hier kann herkömmliche Technik immer nur einen Teil des Geschehens abbilden, also lediglich einen Ausschnitt zeigen. Der Bildautor lenkt den Blick, bestimmt, was seiner Meinung nach wichtig ist, drängt dadurch dem Betrachter ein Narrativ auf. Bei 360-Grad hingegen konfiguriert der Betrachter das Narrativ selber, macht sich sein eigenes Bild, genau wie in der Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Er kann frei entscheiden, was ihm wichtig ist und wo sein Blick hängenbleiben soll. Ja, er kann sogar Perspektiven einnehmen, die über das real Mögliche hinausgehen, wenn etwa das Stativ mit dem 360-Grad-Equipment an einer Stelle positioniert wird, die im Ereignisablauf weder ein Akteur noch ein Zuschauer je betreten darf. So können Perspektiven entstehen, die überhaupt noch niemand erlebt hat.
Ganz besonders gut eignet sich die 360-Grad-Technik nicht zuletzt für die Dokumentation von in der Fastnacht häufigen rituellen Tänzen, weil sie in der Dimension des Raums erfasst werden. Auf diese Weise kann zum Beispiel die Weitergabe non verbaler mimetischer Traditionen studiert werden, lässt sich die Sedimentierung von inkorporiertem Bewegungswissen im kulturellen Gedächtnis untersuchen. Dies sind nur ein paar Aspekte von vielen, deren vollständige Auflistung hier zu weit führen würde.
Das Projektteam von Langenstein verfolgt bei der musealen Aufbereitung von immateriellem Kulturerbe das Ziel der Lively Exhibition, der raschen und dynamischen Kuration und Produktion von Ausstellungen mit User-Beteiligung. Angestrebt wird die Erstellung eines einfach zu bedienenden und web-basierten Instrumentariums, um eine schnelle und professionelle Produktion von Sonderausstellungen mit Bezug zu aktuellen Themen zu ermöglichen. Das Werkzeug ist open source und modular aufgebaut. Es enthält neben den Komponenten der Datensammlung durch das Publikum, dem digitalen Kuratieren und der Verbindung zur Ausstellungshardware auch Module zur automatisierten Medienbearbeitung. Ergänzt wird es durch öffentliche Schnittstellen, um Medien und kuratierte Ausstellungen zu archivieren und auszutauschen.
Konkret wird das Museumspublikum eingeladen, eigene Fotos und Videos für die Ausstellungen beizusteuern (per E-Mail, Social Media, Website, über QR-Codes etc.). Diese können, durch Administratoren, innerhalb von Sekunden im Museum bereitgestellt werden. Lively Exhibition soll durch eigene Hardware (Bildschirme, Projektoren, eInk-Displays) wie eine reguläre professionelle Ausstellung inszeniert werden. Medienbearbeitungstools ergänzen den Prozess: Anpassen von Bildern an Bildschirme basierend auf ihrem Seitenverhältnis bzw. ihrer Größe und Vorschlagen ähnlicher Bilder aufgrund ihrer Klassifizierung nach Tags, Region, Jahr, Thema oder Form- und Farbähnlichkeit.
Die so entstehenden „lebendigen Ausstellungen“ machen die Vitalität des jeweiligen Themas deutlich (aktueller Bezug, Digital Storytelling, sich anpassende und ändernde Inhalte, subjektive Wahrnehmung) und damit den Kurationsprozess sichtbar. Dadurch können Sonderausstellungen für das Fastnachtsmuseum umgesetzt werden, die politisch bzw. soziokulturell relevante Themen wie „Fastnacht und Corona“ oder kulturanthropologisch interessante Dynamiken wie „Neue Tendenzen in der Fasnacht“ vermitteln können. Darüber hinaus soll auch die universelle Einsetzbarkeit des Systems getestet werden, indem schnell, aus vorhandenen digitalisierten Exponaten, Sonderausstellungen erstellt werden.
Erfahrungsgemäß lassen sich Wissen und Inhalte einfacher und besser vermitteln, wenn zuvor ein emotionaler bzw. persönlicher Bezug erzeugt wurde und somit eine allgemeine Information zu einer persönlichen wird. Das gelingt durch den intuitiven Einsatz von KI, die beispielsweise ausgestellte Masken und BesucherInnen miteinander verbindet. Diese treten dazu an eine spezielle Onboarding-Station mit interaktivem Bildschirm heran, der über Buttons und eine Kamera bedient werden kann. Die BesucherInnen werden nun aufgefordert, Grimassen zu schneiden, die von der Kamera aufgenommen werden. Das Videomaterial wird dann von einer dahinterliegenden KI analysiert und mit dem Fundus an Fastnachtsmasken aus dem Museumsbestand abgeglichen. Im Ergebnis wird den BesucherInnen schließlich ihre individuelle Maske aus Hunderten digitalisierter Exponate offeriert und virtuell, auf dem Bildschirm, aufgesetzt. Zu dieser Maske bekommt man Informationen eingeblendet, die auf deren Herkunft und Bedeutung verweisen, was eine emotionale Beziehung zwischen dem eigenen Ich und dem Kontext der Maske schafft. Auf diese Weise wird Immaterielles Kulturerbe konkret erlebbar und bekommt einen Anwendungscharakter.
Interaktives Erforschen der Maskensammlung von Schloss Langenstein am Touchtable, Foto: Fasnachtsmuseum Schloss Langenstein, CC BY 4.0 Maske auswählen und auflegen, schon startet die Personalisierung der BesucherInnen durch eine Chatbot-Abfrage, Foto: Fasnachtsmuseum Schloss Langenstein, CC BY 4.0
In Bad Dürrheim wird derzeit aus aktuellem Anlass zusätzlich noch die Dynamik von Immateriellem Kulturerbe unter dem Einfluss des durch COVID-19 bedingten Ausfalls der Fastnacht 2021 untersucht und mit digitalen Strategien erschlossen. Eine breite Sammlung, Analyse und Präsentation zum Beispiel digitaler Ersatzformate, die von den Akteuren anstelle der wegen der Pandemie entfallenden üblichen Brauchpraxis generiert wurden, soll Aufschluss über Art und Folgen des besagten Einschnitts in tradierte kulturelle Handlungsmuster geben. Als Dokumentationsort und Präsentationsmedium eignet sich hierfür das bereits bestehende „Virtuelle Fastnachtsmuseum“ sehr gut, das durch die Sondersituation des Jahres 2021 eine entsprechende Erweiterung erfahren wird. Dadurch entsteht ein ganz neues Feld der kritischen Auseinandersetzung mit unerwarteten Dynamiken Immateriellen Kulturerbes. Die bislang bereits archivierten digitalen Materialien lassen hier spannende museumsdidaktische Perspektiven erwarten.
Beitrag von: Prof. Dr. Werner Mezger
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